Von Annette Clauß:
Ohne Suleika wäre Sabrina Schmids Leben wohl ziemlich anders verlaufen. Die Araberstute, davon ist die 38-jährige Frau überzeugt, ist der Hauptgrund dafür, dass sie heute frei und ohne Hilfsmittel gehen kann. Als Dreijährige hat Sabrina Schmid, die mit einer Cerebralparese auf die Welt kam, zum ersten Mal Hippotherapie verordnet bekommen. Diese Form des therapeutischen Reitens wird bei neurologischen Bewegungsstörungen, Erkrankungen des Zentralnervensystems und des Stütz- und Bewegungsapparates angewandt. Bei Sabrina Schmid zeigte die Behandlung Wirkung: Mit fünf Jahren konnte sie endlich eigenständig gehen und kommt bis heute zweimal pro Woche an den Ort, an dem alles angefangen hat – auf den Pferdehof am Schlossberg, eine Einrichtung der Diakonie Stetten.
Jede Woche besuchen rund 70 Menschen den mitten im Ort Stetten liegenden Hof, um von der heilsamen Wirkung der Pferde zu profitieren. Wer durch das Hofgatter geht, hat das Gefühl, ein Stück heile Welt zu betreten. Auf dem Vorplatz watschelt eine Gans ihres Weges, döst Hund Nemo gemütlich in der Sonne. Währenddessen rasen über ihm Dutzende Schwalben auf der Jagd nach Fliegen durch die Luft, düsen pfeilschnell durch die offene Tür in den Pferdestall und hinaus.
Drinnen sind die meisten Boxen leer, nur Therapiepferd Donald hält die Stellung. „Er ist schreckhaft und eigentlich kein klassisches Therapiepferd, aber mit seinen 26 Jahren doch genau der Richtige für die Therapie mit Kindern“, sagt Mariann Clemenz. Die 32-Jährige hat viele Jahre ehrenamtlich auf dem Pferdehof ausgeholfen. Vor fünf Jahren wollte sie eigentlich nur die Firma wechseln, doch just zu diesem Zeitpunkt wurde auf dem Pferdehof eine Stelle frei und Clemenz sattelte spontan komplett um: vom Job in der Personalberatung zur Arbeit auf dem Hof, der ein Teil der Remstalwerkstätten ist.
Dort arbeitet sie als Fachkraft für pferdegestützte Pädagogik und Arbeits- und Berufsförderung. Sie und ihre Kollegin Mathilde Hartel, die seit fast 40 Jahren auf dem Pferdehof tätig ist, haben ein Team von 16 Mitarbeitenden mit und ohne Behinderungen um sich und versorgen elf Therapiepferde der Diakonie Stetten sowie vier eingestellte Privatpferde. „Unsere Leute sind echte Pferdeprofis“, sagt Mariann Clemenz: „Sie kennen sich bestens aus und wissen, wie die Pferde gesattelt und getrenst werden.“ DerJob gebe ihnen Selbstbewusstsein und die Möglichkeit zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Geschafft wird an sieben Tagen pro Woche. Füttern, tränken, Stall ausmisten, den Hof kehren, die Pferde in den Therapiestunden am langen Zügel führen: Arbeit gibt es genug. Und für jeden und jede findet sich eine passende Tätigkeit. Dadurch, dass einige Privatleute ihre Pferde hier stehen haben, ist der Kontakt zur Außenwelt gewährleistet.
„Wir sind Westernreiter und haben eher kleine Pferde mit einem Stockmaß von ungefähr 1,50 Meter“, erzählt Mariann Clemenz. So fallen Reiter nicht so tief, der Pferderücken ist auch nicht gar so breit und daher für Patienten geeignet, die ihre Beine nicht so weit spreizen können. Die Pferde-Mannschaft besteht aus verschiedensten Rassen: vom Quarter Horse über Appaloosa und Araber bis zum Haflinger und Schwarzwälder Kaltblut. Die Herde bilde die Vielfalt der Klienten ab, sagt Clemenz. Denn Gewicht, Größe und Charakter von Zwei- und Vierbeiner müssten passen.
Für alle Pferde gilt: sie dürfen nicht beißen oder schlagen. Ansonsten sollen die Tiere aber unterschiedliche Eigenschaften haben. Manche seien durchaus etwas schreckhaft, neben anderen könne man problemlos ein Feuerwerk abschießen, sagt Clemenz, die bei der Auswahl zudem auf das Gangbild achtet. Auch dieses muss passen: „Unsere Reiter mit Multipler Sklerose testen am Anfang aus, welches Pferd ihnen gut tut.“
Dank eines Lifters in der Reithalle können selbst Menschen, die im Rollstuhl sitzen, problemlos in den Sattel kommen. Die Therapiepferde werden im Alter von drei bis fünf Jahren gekauft. „Wir haben das Züchten aufgegeben, weil man nie weiß, was herauskommt und diePferde zum Stall, den Therapeuten und Patienten passen müssen“, erzählt Mariann Clemenz.
Bei Marian Ujcic und dem Schwarzwälder Kaltblut Wirbel beispielsweise scheint die Chemie gut zu stimmen. Gerade eben haben die beiden, wie von Mathilde Hartel gewünscht, an einer Stelle in der Reithalle einen Stopp eingelegt. Auf einem Wandvorsprung hat Hartel einen gelben Wurfring platziert, den sich Marian Ujcic nun greifen soll. Der Mann, der seit einem Unfall ohne Kurzzeitgedächtnis lebt, muss sich ziemlich strecken, um an den Ring zu kommen. Die Übung sei sehr gut, um die Auge-Hand-Koordination zu schulen, sagt Mathilde Hartel. Danach muss sich Marian Ujcic zu Mark Elsenhans drehen, der auf Quarter Horse Pünktchen direkt neben ihm sitzt, und den Ring an ihn weitergeben. Mark Elsenhans’ Aufgabe ist es nun, den Reif über einen langen Stock zu werfen, den der am Boden stehende Marco Musmeci hält. Drehen, strecken, beugen und sich auf ein Ziel konzentrieren: die drei Männer machten Physiotherapie, ohne es zu bemerken, sagt Mathilde Hartel: „Wenn ich sage, ,dreh dich’ wird es vielleicht nicht klappen, so aber funktioniert es.“ Mit einem „Plopp“ fällt der gelbe Ring neben dem Stock zu Boden. „Mark, das war kein Treffer!“, sagt Hartel – auf geht’s in eine neue Runde. Diesmal läuft es wie am Schnürchen. „Wirbele, wir zwei haben das sehr gut gemacht“, sagt Marian Ujcic zufrieden.
Marian Ujcic komme seit Langem zum therapeutischen Reiten, erzählt Martin Frädrich. Damit er und andere Patienten weiterhin von der besonderen Therapie profitieren können, hat Martin Frädrich Anfang des Jahres mit Mitstreitern einen Förderverein gegründet. Denn im Herbst 2021 wurde die Finanzierung des Pferdehofs umgestellt. Seitdem muss der Hof sich selbst tragen. Die Kosten für Teilnehmer hätten sich verdoppelt, sagt Frädrich. Manch einer kann sich die Reittherapie nicht mehr leisten. In solchen Fällen will der Förderverein einspringen und zudem Sorge dafür tragen, dass der Hof bestehen bleibt. „Wir wollen helfen, dass dieses einmalige Angebot bestehen bleibt“, sagt Frädrich: „ Es hilft so vielen Menschen und ist ein Aushängeschild, ein leuchtendes Beispiel für Inklusion.“